Sonntag, 23. Dezember 2012

Das 24. Türchen: Frohe Weihnachten

Auch dieses Jahr habe ich wieder beim boxyboy-Advendtskalender mitgemacht und sogar das beste Türchen abbekommen. Ich finde diese Adventskalender total schön, obwohl ich ja gar nicht auf Weihnachtskitsch und überzuckerte Storys stehe. Dieses Jahr war ich etwas spät dran und habe auf den  letzten Drücker abgeschickt, weshalb die Geschichte auch keine Beta gesehen hat und einige Fehler aufweist. Es gibt sie etwas verbessert jetzt auch direkt hier zu lesen. Frohe Weihnachtstage.


Ein ganz normales Familienfest

Den ganzen Abend war Vincent durch die Stadt gelaufen, auf der Suche nach einem Weihnachtsgeschenk für seinen Freund. Es sollte etwas Besonderes sein, denn er wollte damit sein schlechtes Gewissen beruhigen. Finn würde sich freuen, wenn er ihn einladen würde, mit seiner Familie zu feiern. Aber abgesehen von Vincents Schwester und seinen Eltern wusste niemand in seiner Familie, dass er schwul war. Und wenn es nach ihm ging, sollte das auch so bleiben. Seufzend verließ Vincent das Kaufhaus. Nach der Arbeit herzukommen, war keine gute Idee gewesen. Er war erschöpft und was er Finn schenken sollte, wusste er immer noch nicht.

Als er nach Hause kam, fand er die Wohnung leer und dunkel vor. Finn war noch nicht zu Hause, obwohl Vincent am Freitag sonst immer vor ihm da war. Da sein Magen knurrte, öffnete Vincent den Kühlschrank und nahm eine Pizza aus dem Tiefkühlfach. Eigentlich hatte er gehofft, dass Finn etwas zu Essen gekocht hatte, wie er es sonst auch immer tat. Vielleicht war Finn ins Fitness-Studio gegangen. Damit hatte er vor einigen Wochen wieder angefangen, obwohl Vincent fand, dass er das gar nicht nötig hatte. Er setzte sich vor den Fernseher und zappte sich durch das langweilige Programm. Erst eine Stunde später hörte er, wie Finn die Haustür öffnete.


„Was sitzt du hier im Dunkeln?“, fragte Finn und schaltete das Licht ein.
Vincent zuckte die Schultern. „Wo warst du?“
Finn seufzte schwer. „Lisa hat mir ihr Herz ausgeschüttet.“ Er zog seine Jacke aus und setzt sich neben ihn auf das Sofa. Um ihn besser zu verstehen, stellte Vincent den Fernseher leiser.
„Wieso hast du nichts zu Essen gekocht?“, frage Finn mit einem kritischen Blick auf seinen leeren Teller.
„Das machst du doch sonst immer. Ich hatte Hunger.“
„Ist es zu viel verlangt, dass du einmal im Monat auch was kochst?“ Finn verschränkte die Arme vor der Brust.

Wieso er damit plötzlich ein Problem hatte, verstand Vincent nicht. Sonst sagte er immer, dass er gerne kochte, und dass das was Vincent zustande brachte sowieso ungenießbar war. Sie wohnten jetzt seit einem Jahr zusammen und bisher hatte ihre Aufteilung der Haushaltsaufgaben erstaunlich gut funktioniert. Doch heute schien Finn es auf Streit anzulegen.

„Ich weiß nicht, was du für ein Problem hast. Soll ich dir schnell ein Baguette machen?“
„Nein.“
Vincent richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Fernseher, wo ein mäßig spannender Film lief. Seit einigen Tagen schien Finn nicht gut drauf zu sein, und er beschloss ihn nicht weiter zu reizen.
„Wann fährst du jetzt zu deinen Eltern?“, fragte Finn plötzlich. Vincent hatte es ihm doch schon mehrfach gesagt, nie konnte er sich etwas merken.
„Am dreiundzwanzigsten bis zum fünfundzwanzigsten.“ Er ahnte schon, dass Finn jetzt wieder damit anfangen würde, dass er ihn nicht gefragt hatte, ob er mitkommen wollte. Deswegen hatte er bereits ein schlechtes Gewissen, aber er würde seine Meinung nicht ändern.

„Finn … jetzt sei doch nicht so!“
„Ich sag doch gar nichts.“
„Aber du denkst. Dann sag doch einfach, weshalb du sauer bist.“
Finn wandte sich ihm zu, er sah müde aus, die dunklen kinnlangen Haare windzerzaust. „Ich verstehe dich einfach nicht. Deine Eltern wissen es doch. Hast du solche Angst davor, was deine Oma oder dein Onkel sagt, wenn du mit mir ankommst? Schämst du dich für mich?“
„Du weißt genau, dass das nicht so ist. Ich habe nun mal einfach keine Lust, dass sich alles um mich dreht, und du würdest dich doch auch nicht wohlfühlen, ich kenne doch meine Familie.“
Finn seufzte und auf einmal wurde sein Blick milder, er legte seine Hand auf Vincents Bein.

„Wenn du meinst. Ich fände es nur schön, wenn wir zusammen feiern könnten.“
„Ich doch auch. Wenn du möchtest, komme ich früher zurück.“ Sanft küsste er Finn auf die Stirn. Er wollte nicht, dass sie sich deswegen stritten.

Als Vincent mit seinen Geschenken bepackt in der Tür stand, war Finn damit beschäftigt, die Möbel im Wohnzimmer zu verrücken, was er ungefähr alle zwei Monate tat.
„Ich fahre jetzt los“, sagte Vincent. Finn hatte ihn nicht noch einmal gefragt, ob er mitkommen könnte, aber er wusste, dass er dennoch etwas gekränkt deshalb war.
Nachdem er den Sessel vor das Fenster geschoben hatte, kam Finn zu ihm, blieb einen Schritt vor ihm stehen. „Dann bis bald …“
„Finn!“ Vincent zog ihn in seine Arme. „Ich komme in zwei Tagen wieder, versprochen. Und ich habe dir dein Geschenk auf den Tisch gelegt, aber noch nicht aufmachen! Jetzt hör auf, mir ein schlechtes Gewissen zu machen.“
Mit seinen großen Rehaugen, die sagten, dass er nicht gehen sollte, sah Finn ihn an.
„Ich rufe dich nachher an, okay?“ Vincent küsste Finn auf seine vollen Lippen.


Als er vor dem Haus stand, wäre er beinahe wieder umgekehrt. Wenn er vorher gewusst hätte, dass es Finn so wichtig war, mit ihm Weihnachten zu feiern, hätte er seinen Eltern nicht gesagt, dass er kommen würde. Aber nun hatte er schon zugesagt, seine Schwester mit dem Auto mitzunehmen und alle Geschenke eingekauft. Und wenn er jetzt nicht losfuhr, würde er sicherlich in einen Stau geraten. Seufzend schaute er zum Fenster ihrer Wohnung hoch, aber Finn war nicht zu sehen.

Sonst hatte Finn immer gesagt, dass er Weihnachten nicht mochte, dass er die Dekorationen in der Stadt hasste, dass er keinen Baum in ihrer Wohnung wollte, und das ganze sowieso albern wäre. Letztes Jahr war nicht einmal die Frage aufgekommen, ob sie zusammen zu Hause bleiben würde, denn Finn ging normalerweise am vierundzwanzigsten zu seinen Eltern, was er auch morgen wieder tun würde. Es war ja nicht so, dass er ihn ganz allein feiern ließ, er hatte schließlich eine große Familie, drei Halbgeschwister und zig Cousins. Bisher hatte er Finns Familie erst einmal getroffen, seine Geschwister schienen kein Problem damit zu haben, dass er schwul war, aber besonders nah waren sie sich auch nicht. Warum Finn Weihnachten auf einmal so wichtig war, verstand Vincent überhaupt nicht.

Vincents Schwester Clara wohnte auf halber Strecke zu seinen Eltern in einem kleinen Ort, mit ihren zwei Kindern. Von ihrem Mann hatte sie sich vor einiger Zeit getrennt. Als er auf ihr Grundstück fuhr, sah er seine beiden Nichten bereits mit Mantel und Mütze und gepackten Koffern vor dem Haus stehen. Sie waren vier und sieben Jahre alt und als er auf sie zuging, sah er in ihren Augen die sehnsuchtsvolle Erwartung auf Weihnachten. Sie strahlten und winkten und er umarmte beide ganz fest.

Im Auto waren die Mädchen schnell eingeschlafen, seine Schwester neben ihm war wohl froh, für einen Moment ihre Ruhe zu haben.
„Ich hoffe, Onkel Paul betrinkt sich nicht wieder so, wie letztes Jahr“, sagte sie. Das hoffte Vincent auch, denn wenn Paul betrunken war, neigte er dazu, jeden anzugrabschen und Streit zu stiften. Eine Weile unterhielten sie sich darüber, was sie gemacht hatten, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten.
„Warum ist Finn eigentlich nicht mitgekommen?“, fragte sie plötzlich, als Vincent gerade auf die Autobahn fuhr.

Einen Moment wusste er nicht, was er antworten sollte, wurde durch den Verkehr abgelenkt und war sich mit einem Mal selbst nicht mehr sicher, was eigentlich der Grund war.

„Hast du etwa immer noch Angst, sie könnten ein Problem damit haben? Meinst du, Oma bekommt deswegen einen Herzinfarkt?“, fragte sie spöttisch.
Vincent fand, dass das gar nicht so abwegig war. „Darum geht es doch überhaupt nicht“, sagte er und bevor er noch etwas sagen konnte, waren die Kinder aufgewacht und verlangten nach Apfelsaft und Keksen.


Wie jedes Jahr lief seine Mutter hektisch durchs Haus und war der Ansicht, dass sie es nie schaffen würde, bis morgen alles vorzubereiten. Sie wollte immer, dass alles perfekt aussah. Der Weihnachtsbaum reichte beinahe bis zur Decke und war mit den Kugeln seiner Urgroßmutter geschmückt, genauso wie früher. Im Wohnzimmer hatte sie Spitzendecken auf den Tisch gelegt, aus der Küche roch es nach Keksen. Vincent mochte diesen Geruch, wenn er nach Hause kam. Für einen Moment fühlte er sich dann wie ein Kind, um dann schmunzelnd zuzusehen, wie seine Schwester und seine Mutter darüber stritten, wenn seine Schwester ihrer Mutter Arbeit abnehmen wollte. Doch er wusste auch, dass es nicht immer so friedlich blieb.

Sein Cousin Alex war bereits eingetroffen, er war fünf Jahre jünger als Vincent und sie hatten früher nie viel miteinander zu tun gehabt. Eine Weile unterhielten sie sich darüber, was im letzten Jahr bei ihnen passiert war. Eigentlich war Alex nett und hatte einen offenen Charakter, aber viel gemeinsam hatten sie nicht. Alex, lebte in einer Kleinstadt, ging jeden Monat ins Fußballstadion und war seit fünf Jahren verheiratet, und er schien nicht danach zu streben, Karriere zu machen. Was Vincent an sich nicht schlimm fand, nur dass er nicht wusste, was er Alex erzählen sollte, wenn er Finn nicht erwähnen wollte.

„Und keine Freundin in Sicht?“, fragte Alex, nachdem sie bereits einige Gläser Rotwein getrunken hatten.
„Nein“, sagte er nur und hoffte, dass Alex es dabei beließ.
Seine Mutter lief währenddessen immer noch durchs Haus und schien gestresst zu sein. Seine Schwester zwang sie irgendwann, sich hinzusetzen.
„Komm, Mama, ich weiß nicht, was du noch alles machen willst. Es sieht doch gut aus“, sagte sie.

Sein Vater lächelte nur und zog an seiner Pfeife. Seine beiden Enkelkinder saßen rechts und links neben ihm und warteten darauf, dass er ihnen eine Weihnachtsgeschichte vorlas. Mit seinem weißen Bart sah er beinahe aus, wie ein Weihnachtsmann, fanden die Kinder.
„Kriegen wir jetzt schon Geschenke?“, fragte Emma.
„Nein, du Dumme. Morgen“, sagte ihre Schwester und sie mussten alle lachen.

Als Vincent ins Bett ging, versuchte er Finn anzurufen, aber der nahm nicht ab. Die Gewissheit, dass Finn immer noch sauer auf ihn war, ließ ihn nicht einschlafen. Sie waren jetzt drei Jahre zusammen und sie hatten sich erst ein einziges Mal richtig gestritten. Er war eifersüchtig gewesen, weil Finn immer noch mit seinem Ex befreundet war. Aber das war auch schon wieder zwei Jahre her.

Eigentlich war er unheimlich froh, dass er Finn gefunden hatte. Vorher hatte er nie so eine Beziehung geführt, wo alles so gut passte. Vielleicht gab er sich nicht mehr genug Mühe, seit sie zusammen wohnten und Finn ebenfalls nicht. Für ihn war klar, dass er mit Finn auch den Rest seines Lebens verbringen wollte, er konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich irgendwann trennten. Vincent starrte an die Wand, wo seine Mutter alte Bilder von seiner Schwester aufgehängt hatte, mit Tusche gemalt.

Es erinnerte kaum noch etwas an sein Jugendzimmer. Nur das Bett war dasselbe, aber das erleichterte ihm den Schlaf auch nicht. Er war es nicht gewohnt, dass es so still war. Unter seinem Schlafzimmer zuhause verlief eine große Straße, ohne den Verkehrslärm fehlte etwas. Obwohl es schon spät war, versuchte er noch einmal, Finn anzurufen, aber wieder nahm er nicht ab. Vielleicht traf er sich mit seiner besten Freundin um sich ihre Männerprobleme anzuhören.

Vielleicht erzählte er ihr auch gerade, wie gemein es von Vincent war, ihn nicht mitzunehmen. Irgendetwas musste er sich einfallen lassen, damit Finn begriff, wie viel er ihm bedeutete.



Schon am Vormittag kamen die anderen Gäste. Da sein Onkel und seine Cousinen in Süddeutschland wohnten, blieben sie immer ein paar Tage. Seit er klein war, war es Tradition, dass sie alle zusammen feierten, und meistens war Weihnachten auch die einzige Gelegenheit, wo er seine Verwandten zu Gesicht bekam. Mit seinem Onkel Paul waren seine beiden Cousinen Charlotte und Vanessa eingetroffen, beide um die zwanzig.
Charlotte und Vanessa waren Zwillinge, aber sie waren anhand ihrer unterschiedlichen Haarfarben - rot und blond - immer gut auseinanderzuhalten, abgesehen davon, dass sie ganz unterschiedliche Persönlichkeiten hatten.

Nachdem sie sich alle begrüßt hatten, versuchte Vincent seine Mutter davon abzubringen, schon wieder die Tischdecken zu bügeln. Clara hatte bereits die Regie in der Küche übernommen, und bereitete das Mittagessen zu, während der Braten für den Abend bereits im Ofen war.

Sie waren kaum dazu gekommen, sich zu setzen, als es erneut klingelte. Diesmal war es seine Tante mit ihrem sechzehnjährigen Sohn Leon. Über die Veränderungen bei Leon wunderte sich Vincent. Seit letztem Weihnachten war Leon mindestens fünfzehn Zentimeter gewachsen, und auch seine Gesichtszüge hatten sich verändert, er sah viel erwachsener aus. Er hatte keine langen Haare mehr und schien sie auch gekämmt zu haben. Nur seine Klamotten hatten sich nicht verändert: Kapuzenpullover und weite Hosen. Leon musste sich von den anderen Fragen anhören, wie es denn in der Schule war und Vincent dachte, dass ihn diese Fragen in dem Alter immer genervt hatten. Als wenn es in dem Alter nichts Wichtigeres geben würde, als Schule.

Leon schien jedoch sehr gute Laune zu haben und die Erwachsenen sogar zum Lachen zu bringen. Er hatte sich zu einem richtigen Charmeur entwickelt, und flirtete sogar ein wenig mit Charlotte, obwohl sie sechs Jahre älter war als er. Bestimmt war er beliebt bei den Mädchen und insgesamt ziemlich cool, wie Vincent zugeben musste. Er selbst war in diesem Alter bei weitem nicht so selbstgewusst gewesen.

Während er auf das Mittagessen wartete, hatte er an die dreißig Wallnüsse gegessen. Er knackte eine nach der anderen und warf sie sich in den Mund, er konnte gar nicht mehr damit aufhören. Sein Vater setzte plötzlich die kleine Emma auf seinen Schoß, der er zuvor Märchen vorgelesen hatte.

„Onkel Vincent?“, sagte Emma mit ihrem hohen Stimmchen, „was ist mit Schneewittchen passiert?“
„Lass mal sehen …“, er nahm ihr das Märchenbuch aus der Hand.


Kurz vor dem Essen trafen dann auch die letzten Gäste ein, seine Oma und die Schwester seiner Oma, die alle Tante Ilse nannten. Tante Ilse war schon über achtzig, hatte aber immer einen lockeren Spruch drauf, während seine Oma eher konservativ war. Auch ein Grund, warum er Finn nicht mitgebracht hatte. Seine Oma war außerdem sehr religiös und hatte ihm als Kind immer aus der Bibel vorgelesen. Für sie war schon Sex vor der Ehe eine Sünde. Tante Ilse dagegen hatte eine bewegte Jugend erlebt und wenn sie betrunken war, erzählte sie gelegentlich von ihren Liebschaften. Sie beschwerte sich immer, dass Charlotte und Vanessa nie männliche Gesellschaft mitbrachten.

Gegen eins saßen sie endlich alle am Tisch, Clara servierte eine Suppe. Vincent versuchte nicht zu viel zu essen, damit noch genug von dem Braten in seinen Magen passte, auf den er sich seit Tagen freute. Neben ihm hatte sein Cousin Alex Platz genommen, auf der anderen Seite Clara. Sie unterhielten sich eine Weile über ihre Jobs, dann kamen sie auf Claras Scheidung. „Ich bin so froh, dass ich diesen Mann los bin“, sagte sie.

„Und kein neuer Mann in Sicht?“, fragte Alex.
„Also …“
Von einem neuen Freund seiner Schwester wusste Vincent bisher noch nichts, umso überraschter war er, als sie nun erzählte, dass sie jemanden bei einem Tanzkurs kennengelernt hatte.
„Und was ist mit dir?“, wandte Ben sich an ihn. „Du bringst nie jemanden mit, du ewiger Junggeselle. Man könnte schon meinen, du bist schwul.“
Vincent spürte, wie er rot wurde. Er schämte sich nicht dafür, schwul zu sein, nicht für Finn oder seine Beziehung. Aber plötzlich hatte er das Gefühl, dass ihn alle ansahen.

„Ich bin mit jemandem zusammen“, sagte er.
„Mit einem Mann?“, fragte Alex, er wusste wohl selbst nicht, ob er die Frage ernst meinte, aber bevor Vincent noch etwas sagen konnte, antwortete Clara für ihn.
„Ja ist er. Mann, Vincent. Ist das so schwer?“
„Ich habe es doch gesagt, mein Vater meinte immer, es stimmt nicht.“ Alex sah ihn nicht entsetzt an, eher belustigt. Aber obwohl Vincent nicht aufsah, spürte er, dass auch alle anderen am Tisch es mitbekommen hatten.
„Was ist los?“, fragte seine Oma, die etwas schwerhörig war.
„Er ist schwul“, brüllte Tante Ilse. „Dann bringt vielleicht endlich mal jemand, einen hübschen Mann mit.“
„Tante Ilse!“, rief seine Mutter.

Immerhin hatte seine Oma keinen Herzinfarkt bekommen.
Während Vincent noch hoffte, dass sich das Gesprächsthema bald änderte und ihn nicht mehr alle anstarrten, erhob plötzlich Leon seine Stimme.
„Ich bin auch schwul“, sagte er. Und dann redeten plötzlich alle aufgeregt durcheinander, Leon grinste und wartete ganze fünf Minuten, bis er sagte, dass es nur ein Scherz gewesen war. Er zwinkerte Vincent zu und Vincent konnte nicht anders, als ebenfalls zu grinsen.

Seine Verwandten schienen nicht besonders geschockt, von seinem Outing, wenn es aber auch noch Leon betroffen hätte, dann wären sie wohl doch entsetzt gewesen. Irgendjemand musste ja den Stammbaum weiterführen.
„Ich bin auch schwul“, sagte Emma. Und da mussten endgültig alle lachen.


Trotzdem beeilte Vincent sich, seiner Schwester in der Küche zu helfen.
„War das nun so schwer?“, fragte sie. Er zuckte die Schultern.
„Tut mir leid, aber ich konnte das nicht mehr mitansehen, dass du dich das nicht traust.“

Vincent war sich noch nicht sicher, ob er es gut fand, dass es raus war und ob er sauer auf seine Schwester sein sollte. Das war genau das, was er nicht gewollt hatte, dass jetzt alle über ihn redeten. Andererseits war diese Geheimnistuerei auch anstrengend gewesen.

Seine Mutter jedenfalls schien es nicht schlimm zu finden. Sie hatte schon gelassen reagiert, als er es ihr mit achtzehn gesagt hatte. Vielleicht hatte sie es auch vorher schon geahnt. Sie überprüfte ihren Braten und tätschelte seinen Arm.
„Dann bring doch Finn nächstes Jahr mal mit“, sagte sie. „Ich kriege ihn so selten zu sehen.“


Während seine Oma mit den Kindern in der Kirche war, legten die Erwachsenen die Geschenke unter den Baum. Weder seine Oma, noch Onkel Paul hatten noch etwas zu seinem Outing gesagt, auch wenn er sicher war, dass sie darüber reden würden, wenn er nicht da war.

Wenn er Finn erzählte, dass es so einfach gewesen war, würde er sicherlich noch wütender auf ihn sein. Und dann kam ihm der Gedanke, dass er ihn fragen konnte, ob er morgen kommen wollte. Er musste es einfach machen, er wollte jetzt, dass Finn da war. Vorher hatte er sich nicht vorstellen können, dass Finn sich überhaupt wohl fühlen würde, unter seinen Verwandten. Sie würden ihn sicher ausfragen und anstarren, wie sie es immer taten, wenn jemand Neues mitgebracht wurde. Aber das war ihm jetzt auch egal. Finn musste nur noch ans Telefon gehen. Er ließ es lange klingeln, bis er endlich Finns Stimme hörte.

„Ich versuche die ganze Zeit, dich anzurufen.“
„Hab ich nicht gehört“, sagte Finn. Er konnte ihm kaum verstehen, im Hintergrund waren Geräusche wie von einer Explosion zu hören.
„Wo bist du denn?“, fragte Vincent, ebenfalls laut.
Finn sagte irgendwas, das er nicht verstand. Dann wurden die Geräusche leiser.
„Zu Hause“, sagte Finn dann.
„Wieso bist du zu Hause?“ Er hätte doch um diese Zeit schon längst bei seinen Eltern sein müssen.
„Ich wollte einen Film gucken.“
„Aber wieso bist du nicht …“
„Ich wollte nicht zu meinen Eltern. Ich hasse es, jedes Jahr ist es das gleiche. Sie streiten sich, meine Geschwister streiten sich, meine Mutter betrinkt sich …“
„Wieso hast du mir das nicht gesagt?“ Vincent konnte die Vorstellung, dass Finn jetzt allein war kaum ertragen. Wenn er das gewusst hätte, dann hätte er doch auch zu Hause bleiben können.
„Ich wollte nicht, dass du denkst, du musst mich mit zu deinen Eltern nehmen. Es ist deine Sache und ich hätte dir nicht …“
„Nein. Ich habe dich angerufen, um dir zu sagen, dass ich will, dass du herkommst, eigentlich morgen, aber du kannst auch jetzt kommen. Ich hole dich vom Bahnhof ab.“

Ein bisschen hatte er Finn noch überreden müssen, aber dann war er einverstanden gewesen und zwei Stunden später sah Vincent ihn aus dem Zug aussteigen. Er hatte im warmen Auto gewartet und nun stand Finn da, mit seiner Tasche, in dem dicken Parka, im Licht einer Laterne, die Schneeflocken umtanzten ihn und er sah aus wie eine Erscheinung. Vincent stieg aus dem Auto und ging auf ihn zu. Er hatte das Gefühl, dass er sich noch nie so gefreut hatte, Finn zu sehen.

Er umarmte ihn ganz fest und küsste ihn auf die kalten Lippen. Erst als der Schnee in seinem Haar schmolz und ihm ins Gesicht lief, ließ er Finn los. Finn lächelte und Vincent wusste, dass wieder alles in Ordnung war, zwischen ihnen.
„Deine Familie reißt mir auch sicher nicht den Kopf ab?“, fragte Finn.
„Nein. Dafür sorge ich schon.“


Finn lag halb auf ihm, sein Körper war heiß und wärmte Vincent, wie immer. Sie hatten das Licht bereits gelöscht, aber Vincent konnte noch nicht schlafen. Diesmal störte ihn die Stille nicht, vielmehr wollte er dieses Gefühl noch länger genießen.
„Deine Familie ist nett“, sagte Finn. Sie waren ein wenig überrascht gewesen, als er Finn mitbrachte, aber nicht unfreundlich. Wie er erwartet hatte, hatten sie ihn ausgefragt, was er beruflich machte, wie sie sich kennen gelernt hatten und alles. Tante Ilse hatte ihm lauter Komplimente gemacht, wie gut er aussah und Onkel Paul hatte gemeint, dass man ihm gar nicht ansah, dass er schwul war, was vielleicht auch ein Kompliment sein sollte.

Finn hatte das Geschenk von Vincent ungeöffnet mitgebracht und nachdem er sich versichert hatte, dass es etwas Jugendfreies war, hatte er es geöffnet, als alle ihre Geschenke auspackten.

„Eigentlich war das ja als Entschuldigung gedacht …“, hatte Vincent schmunzelnd gesagt. Aber das war egal, denn ein gewisser Eigennutz verband sich auch mit dem Geschenk. Es war ein Gutschein für eine einwöchige Reise. Sie waren schon ewig nicht mehr zusammen in Urlaub gewesen, Finn hatte nicht so viel Geld wie er und wollte meistens nichts von ihm annehmen. Aber diesmal, als Weihnachtsgeschenk, schien er es akzeptieren zu können.

„Weißt du“, sagt Finn in die Dunkelheit, „ich hatte kein Recht sauer auf dich zu sein. Ich wusste nur, dass ich mich ärgern würde, wenn ich wieder bei meinen Eltern feier. Letztes Jahr habe ich mir geschworen nicht mehr hinzugehen. Sie streiten sich immer nur alle.“
„Meine Verwandten streiten sich auch mal. Und Onkel Paul betrinkt sich immer.“
„Aber er zündet dabei nicht den Baum an, oder prügelt sich mit deinem Vater.“
Dass es bei seiner Familie so schlimm zuging, hatte ihm Finn nie so direkt gesagt. Vincent wusste zwar, dass seine Kindheit nicht immer glücklich gewesen war, aber dass er nicht einmal mehr Weihnachten bei seiner Familie verbringen wollte, erschütterte ihn dennoch.

„Als ich klein war habe ich mir immer gewünscht, eine normale Familie zu haben“, sagte Finn. „Ich wollte einmal ein ganz normales Weihnachten. Mit einem richtigen Baum, nicht aus Plastik, mit Geschenken, die ich mir wirklich gewünscht habe, und dass sich niemand streitet.“
„Ach Finn.“ Vincent drückte ihn an sich.
„Genauso ist es bei deiner Familie. Genauso, wie ich es mir vorgestellt habe. Danke.“
„Du kannst ab jetzt immer mitkommen. Jedes Jahr.“
Finn strahlte ihn an. Wenn er lächelte hatte er immer etwas Kindliches an sich. Vincent war gerührt, dass es ihm so viel bedeutete, richtig Weihnachten zu feiern und dass er es ihm nun ermöglicht hatte. Finn kuschelte sich an ihn und drückte ihn so fest, dass Vincent kaum noch Luft bekam. „Ich liebe dich“, sagte er.
„Ich dich auch.“

Als Vincent schon beinahe eingeschlafen war, fiel ihm etwas ein. „Krieg ich eigentlich noch ein Geschenk?“, fragte er.
„Das ähm … kriegst du morgen, wenn wir zu Hause sind“, nuschelte Finn.
„Nicht jugendfrei?“
„Nein.“

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